Hindernisse für Familiennachzug

Geschwister gehören nicht zur Familie?

Volljährig gewordene geflüchtete Kinder brauchen ihre Eltern nicht mehr?

Subsidiär Geschützte sind keine Flüchtlinge?

Flüchtlinge müsssen sich an Behörden des Staates wenden, in dem sie verfolgt wurden, um Dokumente für den Familiennachzug zu beschaffen?

Die deutschen Gesetze sind unmenschlich: Viele unsinnige Regelungen und hohe Hürden verhindern den Familiennachzug.

Bellinda Bartolucci von PRO ASYL hat in einem Beitrag alle existierenden Probleme zusammen gefasst:

 

Geflüchtete Menschen sind in einer besonders schwierigen Lage. Häufig mussten sie sich während ihrer Flucht von der Familie trennen. Während sie danach eigentlich einen Schutzraum benötigen, um zur Ruhe zu kommen, bangen sie hingegen um ihre Angehörigen, die selbst oft noch in einer schwierigen, gar lebensbedrohlichen Situation ausharren.

Aufgrund dieser zerreißenden Zwangslage haben Geflüchtete grundsätzlich Anspruch auf Familiennachzug ihrer engsten Angehörigen. Doch rechtlich und praktisch gibt es (zu) viele Hürden, die zu unerträglichen Familientrennungen führen können.

Menschenrechtlicher Anspruch für Geflüchtete

Auch für Geflüchtete Menschen gilt das Menschenrecht auf Schutz der Familie. Sie können sich auf Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention berufen sowie auf den Schutz der Familie nach Art. 6 des Grundgesetzes. Dieses Grund- und Menschenrecht verdichtet sich dann zu einem Anspruch auf Familienzusammenführung, wenn die Familienherstellung andernorts nicht möglich oder zumutbar ist.

Das europäische Recht, das bei der Ausgestaltung des Familiennachzugs ausdrücklich Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention umsetzen will, schreibt daher vor:

»Der Lage von Flüchtlingen sollte wegen der Gründe, die sie zur Flucht gezwungen haben und sie daran hindern, ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Deshalb sollten günstigere Bedingungen für die Ausübung ihres Rechts auf Familienzusammenführung vorgesehen werden.« (8. Erwägungsgrund der europäischen Familienzusammenführungsrichtlinie, 2003/86/EG)

Da eine Flucht kaum lange Planung oder Vorbereitung weder für die geflüchtete, noch für die nachzuziehende Person zulassen, können also an ihre Familienzusammenführung nicht die gleichen Anforderungen gestellt werden wie beim allgemeinen Familiennachzug zu Drittstaatsangehörigen. Es gilt der sog. »privilegierte« Familiennachzug, der auf die regulären Voraussetzungen der Lebensunterhaltssicherung, des Wohnraumnachweises und der Sprachkenntnisse verzichtet. Dies greift allerdings nur zwingend, wenn der Antrag auf Familiennachzug innerhalb drei Monaten nach Schutzanerkennung gestellt wird und die Herstellung der Lebensgemeinschaft in einem Drittstaat, zu dem besondere Bindungen bestehen, nicht möglich ist (vgl. §§ 29 ff. Aufenthaltsgesetz).

Theorie und Praxis fallen auseinander

Und dennoch: In der Praxis ist es mitnichten so, dass die Familienzusammenführung problemlos ermöglicht wird. Die ohnehin bestehenden Schwierigkeiten beim Nachzug verschärfen sich bei Angehörigen von Geflüchteten, die sich weiterhin in großer Notlage befinden können. Zu nennen sind u.a. die schwere Erreichbarkeit von Botschaften außerhalb des Landes unter Gefahren durch kriegerische Konflikte, Inhaftierungen oder Erpressungen, die zu hohen Anforderungen an vorzulegende Dokumente, unterbesetzte Auslandsvertretungen sowie jahrelange Wartezeiten. Dies wird an folgenden Beispielen deutlich:

Entscheidungsgewalt der Herkunftsstaatsbehörden über Geflüchtete?

Grundsätzlich kann von Geflüchteten nicht gefordert werden, für bestimmte Nachweise die Botschaft des Verfolgerstaates zu kontaktieren, da sie ja gerade vor den Machenschaften dieses Staates fliehen. Trotzdem verlangen die deutschen Botschaften von EritreerInnen nun, dass für den Nachweis einer Ehe eine staatliche Registrierung der Hochzeit dargelegt wird. Dies ist untypisch für Eritrea, wo vielmehr religiös oder gewohnheitsrechtlich geheiratet wird. Statt kirchliche Dokumente zu akzeptieren oder andere nach deutschem Recht zulässige Mittel zur Überprüfung der Ehe zu nutzen (Fotos, Befragungen,… ), ist nun eine nachträgliche Registrierung aus Deutschland heraus erforderlich. Dies führt dazu, dass sich stellvertretend Verwandte oder Freunde in Eritrea um diese Nachregistrierung kümmern müssen. Dabei müssen diese wegen der Unterstützung Geflüchteter selbst willkürliche Nachteile und Repressionen bis hin zur Inhaftierung fürchten –Eritrea ist nach wie vor eine brutale Militärdiktatur.

Die Vollmacht zur Registrierung muss zudem noch von der eritreischen Botschaft beglaubigt werden. Die zu schützende Person in Deutschland muss sich also an ihren Verfolgerstaat wenden. Dort soll sie eine Erklärung unterschreiben, dass sie die Flucht bereue und eine »angemessene Bestrafung« akzeptiere. Zusätzlich wird eine Aufbausteuer gefordert, die aus Angst vor Repressionen für die ganze Familie auch gezahlt wird. So hat es erneut der Heimatstaat in der Hand, durch willkürliche Entscheidungen über das Schicksal der Geflüchteten zu entscheiden.

Minderjährige keine Minderjährigen mehr?

Wenn Kinder ihre Eltern nachziehen lassen wollen, müssen die Kinder bei deren Nachzug noch minderjährig sein. Das Problem dabei ist die Zeit: Erst die Flucht, dann der Zeitraum bis zur Asylantragstellung sowie das gesamte Asylverfahren haben gerade in den letzten Jahren extrem lange gedauert. Hinzu kommt die lange Wartezeit auf einen Termin bei der Botschaft im Ausland, um überhaupt einen Antrag auf Nachzug stellen zu können. Besonders für Jugendliche droht damit nicht nur eine Verzögerung des Familiennachzugs, sondern sie laufen Gefahr, endgültig von ihren Eltern getrennt zu werden.

Ein Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union, nach dem aufgrund der besonderen Situation der Geflüchtete, des hohen Schutzes der Familie sowie der Grundsätze der Rechtssicherheit und Gleichbehandlung die Verfahrensdauern nicht zu Lasten der Kinder gehen dürfen und damit der Anspruch bei eingetretener Volljährigkeit bestehen bleibt, wird derzeit bewusst von der Bundesregierung ignoriert (vgl. EuGH, Urteil v. 12.04.2018, C-550/16) – erste deutsche Gerichtsentscheidungen haben diese Weigerung für rechtswidrig erklärt.

Rechtliche »Tricks« zur Einschränkung des Familiennachzugs

Auch rechtlich bestehen erhebliche Probleme. Während der Gerichtshof der Europäischen Union und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in etlichen Entscheidungen die Bedeutung des Familienschutzes hervorhebt, schränkt die deutsche Rechtslage vor allem die Gruppe der Berechtigten ein, wie die folgenden zwei Beispiele zeigen:

Subsidiär Schutzberechtigte keine Flüchtlinge?

Derzeit besteht der privilegierte Familiennachzug für Asylberechtigte nach dem Grundgesetz, für anerkannte Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und für Resettlement-Flüchtlinge. Ausgeschlossen ist die Gruppe der sogenannten subsidiär Schutzberechtigten. Das sind diejenigen, die vor Krieg, Folter oder anderen schweren Menschenrechtsverletzungen fliehen. Allen voran trifft das Geflüchtete aus Syrien, deren Angehörige im Bürgerkrieg oder aber in Nachbarländern zu überleben versuchen. Während sie bis März 2016 den vollen Familiennachzug genossen, ist jeglicher Nachzug (auch der nicht-privilegierte) seitdem komplett ausgeschlossen.

Seit August 2018 gibt es nur noch die – eher theoretische – Möglichkeit, in besonders gelagerten »humanitären« Fällen unter Berücksichtigung von Integrationsleistungen überhaupt noch in ein monatliches Kontingent von maximal 1000 Nachzugsberechtigten zu kommen. Die Auswahl der »Glücklichen« steht allein im Ermessen der Behörden.

Eine Differenzierung dieser Gruppen ist aus menschenrechtlicher Sicht absurd. Es handelt sich hier um Schutzbedürftige, die aus ihrem Herkunftsland wegen gravierender Umstände geflohen sind, die sich nicht in kürzester Zeit lösen lassen – allein der Krieg in Syrien dauert nun schon über 7 Jahre an. Die Familienangehörigen bleiben also genauso wie anerkannte Flüchtlinge über einen unüberschaubaren Zeitraum, wenn nicht endgültig, getrennt und werden zermürbt.

Geschwister keine Kernfamilie?

Das deutsche Recht regelt einen Anspruch auf Familiennachzug nur für die sog. Kernfamilie – also Eltern, minderjährige Kinder und EhepartnerInnen. Nicht dazu gehören Geschwister, selbst wenn sie noch minderjährig sind. Das führt zur unerträglichen Situation, dass weder Geschwister untereinander nachziehen dürfen, noch Eltern ihre minderjährigen Kinder im Herkunfts- oder Transitstaat grundsätzlich mitziehen lassen dürfen. Etwas anderes könnte sich über eine rechtlich umständliche Konstruktion des Kindernachzugs der Geschwister zu den Eltern oder eine Härtefallklausel ergeben, allerdings nur dann, wenn das minderjährige Kind in Deutschland Wohnraum und grundsätzlich ausreichend Lebensunterhalt sichern kann – was in der Praxis so gut wie nie der Fall ist.

Die Eltern stehen vor einem unlösbaren Dilemma: Lassen sie ihr Kind nach den traumatischen Erfahrungen durch die Flucht in Deutschland alleine oder ihr – oft noch jüngeres Kind – unter gefährlichen Bedingungen im Heimat- oder Drittstaat zurück? Das grund-, europa- und völkerrechtlich zu beachtende Kindeswohl dieser minderjährigen Geschwister hier und andernorts bleibt völlig außer Acht, der fehlende Anspruch zerstört ganze Familien.

Kein Ausspielen von Flüchtlingsschutz gegen Familienschutz!

Der schützende Raum, den eine Familie als »natürliche Grundeinheit der Gesellschaft« (Art. 16 Abs. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) bietet, ist essentiell für geflüchtete Menschen. Sie haben sowohl im Herkunftsland als auch auf der Flucht regelmäßig traumatische Erfahrungen gemacht, die sie oftmals nur mit Hilfe ihrer Familie verarbeiten können. Auch für unsere Gesellschaft hat eine solche dauerhafte Trennung fatale Konsequenzen: Wie sollen sich die Betroffenen auf Integration konzentrieren, wenn sie um ihre Familien bangen müssen?

Daraus folgt in der Praxis die Verantwortung, die gegebenen Möglichkeiten so weit wie möglich auszuschöpfen und nicht durch faktische Hürden den Familiennachzug zu verhindern. Auch können und müssen Behörden wie Gerichte europäisches und internationales Recht zur Auslegung der vorgegeben Normen hinzuziehen und so den grund- und menschenrechtlichen Ansprüchen gerecht werden.

Der Gesetzgeber steht besonders in der Pflicht: Die rechtlichen Einschränkungen der Nachzugsberechtigten müssen umgehend aufgehoben werden, der Nachzug muss umfassend gewährleistet sein.

Es muss wieder klar werden: Wir reden hier von anerkannt Schutzberechtigten, denen es nicht möglich und zumutbar ist, andernorts mit ihrer Mutter, ihrem Vater, ihren Kindern oder Ehegatten endlich wieder zusammen zu finden.

Bellinda Bartolucci

Erschienen in »Familienzusammenführung. Für ein Recht auf Familienleben für alle!« des Verbands binationaler Familien und Partnerschaften und auf der Homepage von PRO ASYL am 09.07.2019